Marburger Neue Zeitung v. 3.7.2000: Marktfrühschoppen
Die Gedanken bleiben frei
Von Michael Klein
Toleranz bedeutet in der Ethik, andere Verhaltensweisen und Werte gelten zu lassen. Eine
Gesellschaft mit vielen Verhaltensweisen und Werten, wie die unsere, ist ohne Toleranz
nicht überlebensfähig. So banal die These klingt: Nicht alle Mitglieder dieser
Gesellschaft sind von ihrer Richtigkeit wirklich überzeugt.
Anhänger des politisch linken Lagers haben dies am Wochenende in Marburg erneut
eindrucksvoll demonstriert. Die Aggression richtete sich gegen das, was nicht sein darf,
weil es nicht zu den eigenen Werten passt. Oder schlimmer noch: weil man glaubt, dass es
nicht zu den eigenen Werten passt!
Es war die Jenenser Burschenschaft, die 1817 die Studenten
Deutschlands zum Fest auf die Wartburg rief. Ihre Forderungen hießen: Einheit des
Vaterlandes, Einführung der versprochenen Verfassungen. Das Verbrennen symbolischer Werte
sowohl der Reaktion als auch der Aufklärung hinterließen einen zwiespältigen Eindruck.
Aber die Studenten, die sich von den Fesseln der Fürsten befreien wollten, prägten das
Bewusstsein des Bürgertums im Vormärz und der Revolution von 1848. Die Farben der
Burschenschaft waren Schwarz-Rot-Gold.
Diejenigen, die am Sonntag gegen die Marburger Verbindungen grölten, dürfen ihre
Demonstrationsfreiheit getrost aus jener Zeit ableiten. Wenn sie gleichwohl das
"Verbindungsunwesen" dieser Tage abgeschafft sehen wollen, zeigt dies nicht nur
mangelnde Toleranz: Es fehlt der Wille, vielleicht aber auch die Fähigkeit zur
Differenzierung. Verbindung ist eben nicht Verbindung. Zu Recht nehmen die
Demonstranten Anstoß an Deutschtümelei und rechter Gesinnung. Erst recht, wenn sie sich
öffentlich artikuliert. Und zu Recht legen sie mit ihrer Kritik bloß, dass manche
Korporation ihre Tradition weit höher stellt als die Veränderung in einer sich
wandelnden Gesellschaft. Aber zu Unrecht werfen sie diejenigen, die sich gestern auf dem
Marktplatz friedlich zuprosteten, in einen Topf. Und sie führen ihren berechtigten
Feldzug gegen Rechtsradikalismus an einer Stelle, wo dieser am wenigsten offenbar wird:
bei einem öffentlichen Besäufnis ohne politische Reden.
Wer den Marktfrühschoppen abschaffen will (also eklatant in das hohe Gut der
Versammlungsfreiheit eingreift), muss jegliches Feiern verbieten. Die eigenen Feste
natürlich auch. Da hier wie dort außer Trinken und Singen kaum Bemerkenswertes passiert,
zeigt sich der tiefere Kein des Protests: Die Gesinnung der Feiernden, aller Feiernden,
soll verboten werden, weil nur die eigene wirklich gut ist.
Damit stellen sich die Demonstranten in die Tradition mancher ihrer Gegner: unbeweglich,
unfähig zum Dialog und mit ihrer Form des Protests längst ritualisiert. Wer schon an
Verbindungsfarben, also an der Kleidung anderer Menschen Anstoß nimmt, zeigt, was er von
Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft hält. Die Verbindungsstudenten sind der
Wirklichkeit in dieser Gesellschaft aber zum Glück näher, wenn sie singen: "Die
Gedanken sind frei !" |